KUBOTA Ji'un

In diesem Beitrag möchte ich erklären, was man im sogenannten Satori des Zen erfasst und wie man es erfasst. Weil Satori selbstverständlich eine wirkliche Erfahrung ist, ist es unmöglich, sich das Wesen des Zen anzueignen, ohne Zen geübt zu haben und selbst zu einem Erlebnis zu kommen. Aber es ist wichtig, so glaube ich, dass das Wesen des Satori mit der Weisheit der Vernunft verständlich gemacht wird, damit der Wunsch nach dieser Erfahrung auf richtige Weise geweckt wird. Nun, die phänomenale Welt, in der wir leben, drückt sich in einer begrenzten, relativen, dualistisch-gegensätzlichen Erscheinungsform aus. Man denke an sich selbst. Unser Leben dauert höchstens 100 Jahre, also ist es begrenzt. Man hält sich für intelligent, vielleicht im Vergleich zu jemandem, der weniger intelligent ist, aber im Vergleich zu einem intelligenteren Menschen hat man leider keine Chance, also ist es relativ. Weil man glaubt, dass so ein Selbst existiert, gibt es ein Gegenüber: sowohl Menschen als auch die objektive Welt, die uns gibt -- also ist unser Dasein dualistisch. Seit unserer Geburt kennen wir nur diese begrenzte, relative, dualistische Welt; keine andere Welt existiert, so glauben wir alle. Solange wir in dieser Welt leben, müssen wir uns mit den anderen vergleichen, Kompromisse schließen, Konkurrenzkämpfe führen und Auseinandersetzungen durchstehen. Es ist normal, dass man sich um seine eigene Stellung in dieser Welt Sorgen macht, sich darum bemüht. und dafür leidet. Wenn man dadurch auch bedingten Frieden und Ruhe hat, ist es doch eine Tatsache, dass man den wahren, tiefen Frieden und das innere Glück hierdurch nicht erlangen kann. Wie wir beim großen Erleuchtungserlebnis des Shakyamuni in Kapitel 1 gesehen haben, ist es die Tatsache, dass unser Wesen vom Grunde her ein unendliches, absolutes und ungeteiltes Sein ist. "Unendlich" heißt, dass es keine zeitliche Grenze gibt: unser wahres Wesen kennt weder Geborenwerden noch Sterben. "Absolut" heißt, dass es räumlich unendlich groß ist: unser wahres Wesen ist nichts anders als das ganze Universum. "Ungeteilt" heißt, dass es zwischen mir und den Anderen keine Trennung gibt: alles Seiende ist das eigene Selbst. So mächtig und groß ist unser wahres Wesen; es überschreitet bei weitem alle unsere Gedanken und Vorstellungen. Folglich bedeutet Satori, aus dem begrenzten, relativen und dualistischen Selbst in das unendliche, absolute und ungeteilte eigentliche Selbst zurückzukehren. Oder es gilt zu üben, um in diese Wirklichkeit hinein zu erwachen, deren Gehalt klar und deutlich zu machen, so dass der Alltag auf entsprechende Weise gelebt werden kann. Wenn alle mit einer so hervorragenden Wesensnatur ausgerüstet sind, wie kommt es dann, dass die Menschen diese nicht erkennen? Das kommt daher, dass durch das starke Ich-Bewusstsein unsere wahre Wesensnatur verdeckt wird; wir können nicht einmal die Tatsache dieses Verdecktseins erkennen. Was Shakyamuni bei seiner großen Erleuchtung spontan ausgesprochen hat, ist je nach Sutra verschieden ausgedrückt. Nach dem Kegon-Sutra soll er folgendermaßen gesagt haben: "Wunderbar! Wunderbar! Alle Lebewesen besitzen die Weisheit und Tugend des Tathagata. Aber wegen verkehrter Gedanken und Illusionen sind sie nicht imstande, dies zu erkennen!" Er verkündet sehr deutlich, dass man bei der Erleuchtung folgendes erkennt: alle Lebewesen sind mit Weisheit und Tugend ausgestattet, und zwar so vollkommen, wie bei dem Tathagata mit seiner vollendeten Persönlichkeit. Dass wir in der Tat diese Wirklichkeit nicht erkennen, liegt daran, dass wir Vollkommenes als unvollkommen, eigentlich Erfreuliches als unerfreulich empfinden; es ist die Illusion, die uns zwingt, eine Sache immer verkehrt zu betrachten -. So hat Shakyamuni es erkannt. Für zwei bis drei Wochen nach seiner großen Erleuchtung hat Shakyamuni den Inhalt der Erfahrung reflektiert und dessen Wahrheit bestätigt. Gleichzeitig hat er festgestellt, dass die gewöhnlichen Menschen, die der Illusion verhaftet sind, diese wunderbare Geistesdimension unmöglich verstehen oder erkennen können; deshalb dachte er daran, lieber gleich in das Nirvana einzugehen. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass unsere Verblendung unermesslich tief und stark ist. Da bemerkte der höchste Gott der Brahmanen diese Entscheidung Shakyamunis, so wird gesagt, und dachte, dass dadurch diese Welt in völlige Finsternis geraten würde. Deshalb stieg er von der Brahmawelt herunter, und erschien plötzlich vor Shakyamuni und bat ihn dreimal von Herzen: "Welterhabener, ich bitte Euch inständig, Euer Dharma zu predigen." Da sann Shakyamuni noch einmal darüber nach: es gibt unter den Menschen nicht nur große Sünder, sondern auch weniger Sündige, sowohl Dumme als auch Kluge, Böseartige sowie Gütige. Diese Beobachtung führte ihn zu dem Schluss, dass es doch wert sei, dieses kostbare Dharma zu predigen. Als Brahma das gesehen hatte, verneigte er sich tief und ehrerbietig und verschwand Das ist die berühmte Geschichte von Brahmas Bitte. Diesem Umstand verdanken wir, dass wir auch heute die Lehren Shakyamunis vernehmen können. Diese Geschichte drückt symbolisch folgendes aus: unser Leid in dieser phänomenalen Welt wird hervorgerufen durch die Kluft, die darin besteht, dass unser wahres Wesen im Grunde unendlich, absolut und ungeteilt ist, so dass wir eigentlich dahin zurückkehren wollen, jedoch dass wir niemals imstande sind, diese Rückkehr zu verwirklichen. Deshalb könnte man sagen, dass die Stimme Brahmas die Stimme unseres wahren Wesens ist. Wir bemerken es nämlich nicht, dass unser wahres Wesen durch die Illusion des Ich-Bewusstseins verdeckt ist, während wir unbewusst ständig das Bedürfnis haben, dieses wahre Wesen in uns zu wecken. Das Ziel der buddhistischen Übung besteht allein darin, das Wesen unseres Selbst zu erforschen, das heißt: das unendliche, absolute und ungeteilte Selbst klar zu erkennen; nicht den Kopf mit Dogmen der buddhistischen Lehre vollzustopfen und darüber zu diskutieren und zu streiten. Vielmehr ist es wichtig, dass alle Vorstellungen zuerst vernichtet werden und die Frage "Was bin ich?" ernsthaft und beharrlich verfolgt wird. Aber auf welche Weise wird es möglich, das eigene wahre Selbst durch und durch zu erschauen? Zunächst muss man sich selbst vergessen. Die Verhaftung an das Ich muss einmal durchschnitten werden. Wir müssen die Erfahrung machen, die Vorstellung vom unbezwingbaren Ich, das wir für wichtiger als unser Leben halten, auszurotten. Selbstverständlich ist das gar nicht so einfach. Wenn man aber den intensiven Eifer besitzt, und den starken Entschluss fasst, diese Erfahrung in jedem Falle zu machen, kann jeder dieses verwirklichen - unabhängig von Volk, Geschlecht, Nationalität, Glaubensrichtung und Bildung. Warum wir das verwirklichen können, liegt an der Tatsache, dass das Wesen des Menschen als solches unendlich, absolut und ungeteilt ist. Als eine konkrete Methode dafür benutzen wir gewöhnlich das sogenannte Koan (ein Zen-Problem) ?MU'. In diesem Koan hat in alter Zeit ein Mönch seinem Meister Joshu [einem der bedeutendsten Zen-Patriarchen] die folgende Frage gestellt: "Hat auch ein Hund die Buddhanatur?"¼£¼£Diese Frage kam natürlich nicht wie aus heiterem Himmel. Der Kern der großen Erleuchtung Shakyamunis liegt, wie vorher schon erwähnt, darin, dass alles Existierende das Wesen des Buddhas, die Buddhanatur, besitzt. Das wissen alle Zen-Übenden. Auch der Mönch hier wusste das sehr wohl. Aber ob abgesehen von Menschen auch ein Hund die Buddhanatur besitzt, das war sein großes Problem. Daraus entstand diese Frage. Hierauf antwortete Joshu nicht mit "haben" oder "nicht haben", sondern die Antwort war nur "Mu"! Dieses "Mu!" ist nichts anderes als unsere unendliche, absolute und ungeteilte Wesensnatur. Diese Tatsache dem Meister zu zeigen ist die Aufgabe des Schülers. Diese Methode wird seit alter Zeit in der Rinzai-Linie praktiziert. Wenn man auf diese Weise unter einem echten Meister übt, kann man in verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem Erfolg kommen. Ein authentischer Meister ist deshalb unentbehrlich, weil die Erfahrung, die durch diese Methode entstanden ist, auf die Echtheit hin geprüft werden muss. Wenn wir auf diese Art unsere Wesensnatur erblickt haben, wird das Kensho (Wesensschau) genannt, selbst wenn es nur eine kleine Erfahrung ist. Aber eine winzige Erfahrung reicht nicht aus, um das eigene Selbst vollständig zu vergessen. Deshalb übt man auch nach diesem Kensho-Erlebnis mit zahlreichen Koan weiter; dadurch kommt man allmählich dahin, etwas von dem Zustand eines vollkommen vergessenen Selbst zu erfahren. Nun, was geschieht, wenn man wirklich das eigene Ich vergisst? Was dort geschieht, ist das "Bestätigtwerden durch alle Dinge" [Dogen]. Das bedeutet: bestätigt wird nun die Tatsache, dass alle Dinge - wenn einmal das Bewusstsein des "Ich" verschwindet - nichts anderes als das eigentliche Ich sind. Anders ausgedrückt fällt die Wand zwischen dem Ich und Du weg und die Tatsache, dass das Universum und ich gleichen Ursprungs und alle Dinge und ich eins sind, tritt in Erscheinung. Das ist die Wirklichkeit, die durch eine Erfahrung unmissverständlich realisiert wird; dabei gibt es keinen Raum mehr für Vorstellungen. Dass alle Dinge nichts anderes als das ursprüngliche Selbst sind, ist ein Zustand bei dem das Subjekt sowie das Objekt völlig abgefallen bzw. vollkommen leer sind. Der Tatbestand, dass das Subjekt Subjekt, das Objekt Objekt ist, verschwindet vollständig. Trotzdem sind alle Dinge, die vor den Augen erscheinen, unverändert: wie man sie sieht und wie man sie hört. Eben das ist nichts anderes als die Erfahrung der großen Erleuchtung. Erst wenn die Wand zwischen Subjekt und Objekt auf diese Weise weggefallen ist, kann unser ursprüngliches - endloses, absolutes und ungeteiltes - Selbst in Erscheinung treten. Daraufhin wird mit dem Text aus dem berühmten Sutra ?Hannya-shingyo' hingewiesen, "Erscheinung ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Erscheinung, Erscheinung ist nämlich Leere, Leere ist nämlich Erscheinung." Das heißt: Erscheinung hat, so wie sie ist, keine Substanz, da sie leer ist. Substanzlos und leer, tritt alles in Erscheinung, so wie es ist, unendliche Fähigkeiten enthaltend. Die Erscheinung, die uns in der phänomenalen Welt am nächsten ist, ist eben das eigene Selbst. Ferner sind die gegenständlichen Dinge zu nennen, die sich vor uns befinden. Das subjektive Selbst wird ?nin' (Person) genannt und die Dinge der objektiven Welt ?ho' (Phänomene) , und, dass beides leer ist, wird im Hannya-shingyo deutlich dargestellt. Nun, zur Leere des Selbst (ninkû): wir können in keiner Weise die Existenz des eigenen Selbst, das geboren wird und stirbt, verneinen. Dennoch können wir unser Selbst nur mit dem Wörtchen "mein" zeigen - "meine Hand", "mein Fuß", "mein Kopf", "mein Körper" usw. Aber soll man das Selbst an und für sich zeigen, weiß man nicht, wie man das tun soll. Gibt es das Selbst dann nicht? Doch, irgendjemand ist da, der so fragt. Unverkennbar ist einer "da", der da steht, sitzt, weint und lacht. Es gilt, das Wesen dieses Selbst zu durchschauen. Wenn man es durchschaut, erkennt man die Tatsache der Leere, das heißt: Das Selbst ist vollkommen substanzlos und leer; gleichzeitig enthält es unendliche Fähigkeiten, alles zu werden. Dieses ?leer' kann man sich nicht mit Logik oder Vorstellungen erdenken, sondern es muss als Wirklichkeit erfahren werden. Als nächstes zu der Leere der Phänomene (hokkû), der Dinge, die sich vor uns gegenständlich als objektive Welt entfalten. Dass diese leer sind, ist schwieriger zu sehen als die Leere des subjektiven Selbst. Warum das so ist, liegt daran, dass wir die Gegenstände mit unseren fünf Sinnesorganen als außerhalb von uns und als absolut existierend betrachten. Im Buddhismus werden die Dinge der objektiven Welt hô (Gesetz) genannt, weil alle Dinge nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung in Erscheinung treten. Daher sehen wir die Dinge als etwas wirklich Existierendes, aber wenn sich eine der Bedingungen von Ursache und Wirkung, die einen bestimmten Gegenstand hervorgebracht haben, verändert, dann verändert dieser sich sofort in Form und Qualität oder wird augenblicklich vergehen. Zum Beispiel: wenn es den atmosphärischen Luftdruck nicht mehr gäbe, dann würden fast alle Dinge auf der Erde zerbersten und vernichtet werden. Es ist also möglich, die Dinge der objektiven Welt als Manifestation der Leere mit unendlichen Fähigkeiten durch Erfahrung zu erkennen. Man glaubt vielleicht, dass der Ausdruck "formlos und leer doch alle Fähigkeiten besitzend" widersprüchlich ist. Das aber ist die Wirklichkeit, die durch ein großes Erleuchtungserlebnis erkannt wird. Dieser Ausdruck selbst ist die Bestätigung, dass sie nicht das Produkt von Vorstellungen und Einbildungen ist. Nun, "was ist mein ursprüngliches Wesen?" Wenn man dieses eigene Selbst auf diese Weise immer weiter verfolgt, wird man die Welt des "ursprünglichen Nichts" (honrai-muichimotsu) erfahren, in der das Selbst, formlos und leer, ohne jegliche Substanz ist. In diesem Augenblick wird das Bewusstsein eines Ichs weggeblasen; man wird dadurch von aller Angst, Sorge und Not befreit. Gleichzeitig wird man das zum unendlichen Leben erwachte Selbst gewinnen. Das eben ist die Erfahrung des großen Todes und der großen Auferstehung (daishi-ichiban, daikatsu-genjô). Diese "Auferstehung" ist die Wirklichkeit von "Leere ist nämlich Erscheinung" und nicht bloß die Umkehrung von "Erscheinung ist nämlich Leere". Diese Welt der Erscheinung besteht nur aus Phänomenen und es gibt darin nicht den geringsten Spielraum für eine Vorstellung von so etwas wie Leere. Deshalb sind die Phänomene - so wie sie sind - für jemanden, der die wahre Wirklichkeit erfahren hat, formlose Leere, welche doch alle Fähigkeiten besitzt. Sollte so jemand gefragt werden, was die Leere ist, kann dieser ohne jeglichen Zweifel ein Ding der Erscheinungswelt zeigen und sagen: "Das ist es!" Die Kraft, die dies ermöglicht, entspringt der Erfahrung. Dies entstammt nicht der Vorstellungs- oder Gedankenwelt. Auf diese Tatsache wird im Sutra Hannya-shingyo hingewiesen mit "Erscheinung ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Erscheinung".

(übersetzt von SATO Migaku/Rainer HOLDT/Ursula OKLE,
aus: Kubota Ji'un, Satori naki <Satori> e no michi
[Der Weg zum <Satori> ohne Satori], Tokyo (Shunjûsha) 2002, pp. 63-71)




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